Wirtschaftsgeographie

Wirtschaftsgeographie
1. Begriff: Die W. untersucht als Wissenschaft an der Schnittstelle zwischen Geowissenschaften und Wirtschaftswissenschaften das Verhältnis von Wirtschaft und Raum und bemüht sich deshalb um eine Synthese von Wirtschaftsforschung und geographischer Forschung. Hierbei findet die Wirkung natürlicher Raumfaktoren auf wirtschaftliches Handeln (bzw. umgekehrt) besondere Beachtung. Zentraler Forschungsgegenstand der W. ist der  Wirtschaftsraum in seinen verschiedenen Maßstabsebenen. In diesem gilt es, alle vom Wirtschaftsleben ausgehenden bzw. darauf einwirkenden Interaktionen sowie Struktur- und Prozessmechanismen zu untersuchen. Generelles Ziel ist es, räumliche Verbreitungs- und Verknüpfungsmuster bzw. Organisationsformen, die sich aus dem wirtschaftlichen Handeln unterschiedlicher Akteure ergeben, zu erfassen und fachlich zu bewerten.
- 2. Klassifizierung: Die W. lässt sich nach folgenden Kriterien systematisieren: a) Nach dem räumlichen Bezug lassen sich die allgemeine und die regionale W. unterscheiden.
- b) Nach Produktionszweigen bzw. Wirtschaftssektoren kann die W. in die  Agrargeographie, die  Industriegeographie und die Geographie des tertiären Sektors (v.a.  Dienstleistungsgeographie,  Handelsgeographie,  Verkehrsgeographie,  Freizeitgeographie,  Tourismusgeographie) unterteilt werden.
- c) Aus formal-inhaltlicher Sicht lässt sich die W. nach ihrer methodischen Ausrichtung in Theorie, Empirie sowie Wirtschafts- und Regionalpolitik gliedern.
- 3. Forschungsgebiete: Das Forschungsgebiet der W. ist in einem weiten Überlappungsbereich zwischen Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaften angesiedelt. Sowohl Forschungsmethodik als auch Fragestellungen gleichen denen der benachbarten Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Im einzelnen lassen sich folgende Forschungsgegenstände bzw. Aufgabenstellungen anführen: a) Standortforschung ( Standort): Analyse des Verhaltens bei der Standortwahl; Durchführung von Standortanalysen; Entwicklung von Konzepten zur  betrieblichen Standortplanung; Gründungsforschung, Clusteranalysen ( Cluster).
- b) Regionale Strukturforschung: Erforschung der Ursachen und Entwicklung  regionaler Disparitäten sowie Ableitung von Maßnahmen der Regionalpolitik und Regionalentwicklung.
- c) Risiko- bzw. Hazardforschung  (Risiko): Untersuchung der Auswirkungen bestimmter Risikokategorien (Natural Hazards, Man-made Hazards, Social Hazards) auf einzelne Wirtschaftsräume.
- d) Ressourcenforschung: Analyse der Knappheit und Verteilung von  Rohstoffen und  Ressourcen, ihres Einsatzes in der Wirtschaft, ihrer Regenerierbarkeit ( Recycling), Erkundung und Bewertung der Gewinnungs-, Transport- und Nutzungsrisiken.
- e) Internationalisierung der Wirtschaft: Untersuchung der Raumwirksamkeit von Organisationsformen und Unternehmensentscheidungen auf internationaler Ebene (z.B. internationale Verteilung von Wertschöpfungsaktivitäten, internationale Standortwahl, Außenhandelsverflechtungen, Direktinvestitionen) unter Berücksichtigung zeitlicher Veränderungen und regional differierender Einflüsse (z.B. Länderrisiken, kulturelle Faktoren).
- 4. Fachliche Entwicklungs- und Forschungsrichtungen: a) Wirtschaftliche Länderkunde: Wirtschaftskunde der Staaten auf der Grundlage des funktionalen Ansatzes. Sie versucht, wirtschaftliche Grundfunktionen in ihren räumlichen Strukturen und Prozessen abzubilden ( Länderkunde). Wirtschaftsgeographische Forschung reicht i.d.R. über eine deskriptiv ausgerichtete Empirie nicht hinaus.
- b) Raumwirtschaftliche Perspektive ( raumwirtschaftlicher Ansatz,  Raumwirtschaftslehre): Im raumwirtschaftlichen Paradigma steht nicht mehr die Betrachtung von Landschaften und Ländern, sondern räumliche Verteilung und funktionale Verflechtungen einzelner Elemente (z.B. Standortstrukturen, Handelsbewegungen, Unternehmenskonzentrationen), die aufgrund räumlicher Gesetzmäßigkeiten beschrieben, erklärt und bewertet werden sollen, im Mittelpunkt. Der Raum wird zumeist als Kostenfaktor betrachtet, wodurch ökonomische Theorien in die W. integriert werden (z.B.  Industriestandorttheorie,  Thünen-Modell, System  zentraler Orte). Das unterstellte Menschenbild ist stets der  Homo Oeconomicus. Kritisiert wird an dieser Richtung der W., dass Räume als Untersuchungsobjekte quasi personifiziert und zu Akteuren gemacht werden, während sozial- und verhaltenswissenschaftliche Parameter weitgehend ausgeblendet bleiben. Eine Gegenposition stellt die  New Economic Geography dar, die sich durch Kritik und zunehmende Komplexität in der Untersuchung ökonomischer und sozialer Prozesse gegenüber dem raumwirtschaftlichen Ansatz legitimiert.
- c) Handlungs- bzw. akteursorientierte Perspektive: Im Gegensatz zum raumwirtschaftlichen Ansatz rücken die Akteure (z.B. Individuen, Unternehmen, Organisationen) in den Fokus der Betrachtung, indem ihr Handeln als Ursache für räumliche Strukturen anerkannt wird. Das Ziel der rein-deterministischen Theorie- und Modellbildung wird zugunsten der Anschauung, dass das Handeln menschlicher Akteure nicht gesetzmäßig beschrieben werden kann, aufgegeben. Als Menschenbild des ökonomisch Handelnden wird der  Satisfizer unterstellt. Ein jüngerer Ansatz ist die  relationale Wirtschaftsgeographie. Dabei wird ökonomisches Handeln nicht als abstraktes, sondern als soziales, in konkrete Strukturen eingebundenes Handeln ( Embeddedness) gesehen. Es werden nicht mehr isoliert räumliche Strukturen, sondern akteursgebundene Aspekte in räumlicher Perspektive, wie z.B. ökonomische Innovationen, unternehmensübergreifende Organisationsformen und Prozesse des kollektiv-institutionellen Lernens, analysiert.

Lexikon der Economics. 2013.

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